Grundsatztext: Bettina Krieg | von Kai Horstmannshoff

Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine blaugraue, da und dort silbrig glänzende Spur.[1]

In ihrem Notizbuch hielt Bettina Krieg diesen Satz aus dem Roman Austerlitz von W.G. Sebald fest, weil er auf treffende Weise die hinter ihren Arbeiten stehende Weltsicht beschreibt. In Papierarbeiten, dreidimensionalen Scherenschnitten, großformatigen Triptychen, Siebdrucken und Werken aus Tusche, Bunt-, und Bleistift folgt Krieg der „silbrig glänzenden Spur aus Zeichen“. In ihnen wird der Prozess der Zersetzung festgehalten, werden Motive des Zerfalls zu Grundformen eines kreativen Prozesses. Isolierte, dekontextualisierte Formfragmente reihen sich aneinander. Ausgebrannte Autowracks, organische Strukturen und maschinelle Einzelteile werden zu Topografien aus Zeichen und labyrinthähnlichen Strukturen aus Artefakten zusammengesetzt.

Krieg findet die figurativen Bausteine ihrer Bilder in ihrem täglichen Umfeld. Mit ihrer Kamera hält sie verrostende Fahrräder, kahle Bäume, Ruinen und andere Objekte, die sich im Prozess des Vergessen-werdens und der Zersetzung befinden, fest, und katalogisiert sie in einem stetig wachsenden Archiv, auf das sie in der Komposition ihrer Arbeiten zurückgreifen kann. Ihre Arbeitsweise ist die einer urbanen Archäologin die Spuren der Zeit aufzeichnet, bevor diese verwischen und in Vergessenheit geraten können. Obwohl viele der so archivierten Bilder unweigerlich eine thematische Verbindung zu Tod und Zeitlichkeit aufweisen, scheint Bettina Kriegs Schwerpunkt nicht auf den negativen Konnotationen des Endlichen zu liegen, sondern auf dem kreativen Potential, das im Vergehen liegt. Indem sie ihre Formen von dem ihnen ursprünglich angedachten Nutzen befreit, vollendet sie die Auflösung von Siginifikat und Signifikant, die mit der physischen Zersetzung ihren Anfang nahm.

Jedes Zeichen kann mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen. Das heißt nicht, dass das Zeichen außerhalb eines Kontextes gilt, sondern ganz im Gegenteil, dass es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.[2]

Dieser Auffassung folgend verwirft Bettina Krieg in ihren Werken die traditionelle binäre Struktur von Zentrum und Peripherie. Das visuelle und inhaltliche Zentrum des Bildes, das ideologisch eng mit der Idee eines tranzendenten Bezeichneten verbunden ist, wird durch eine dezentrale Aporia ersetzt. Auf dem Weg durch Kriegs visuelle Labyrinthe gibt es keine urgründige Wahrheit: Bedeutung ergibt sich stattdessen in der endlosen Verweisung von einem Zeichen auf ein nächstes. Es gibt somit keinen „richtigen“ Weg, Bettina Kriegs Arbeiten zu lesen, und die in ihnen verborgenen Botschaften und Gefühle ändern sich in Abhängigkeit zum jeweiligen Betrachter. Auf diese Weise werden sie zu visuellen Erkundungen in den Ruinen der Metaphysik, „die frohe Affirmation einer spielerischen Welt aus Zeichen, die ohne Fehler, Wahrheit, und Ursprung sind und auf ihre Auslegung warten.“[3]


  1. Sebald, W.G. Austerlitz. 3.Aufl. München: Hanser, 2001. Seite 184.
  2. Derrida, Jacques. Die Differance. Stuttgart: Reclam, 2004. Seite 89.  ↩

  3. Übersetzt aus: Derrida, Jacques. Writing and Difference: . Ann Arbor: Univ. Microfilms Internat, 1975. Seite 278.  ↩