Die Galerie Martin Mertens zeigt in How long is a piece of string aktuelle Arbeiten der Künstlerin Bettina Krieg. Zu sehen sind Zeichnungen in Schwarz-Weiß, matten Blau- und seidenen Goldtönen. Feine Linien, gezogen mit Pinsel und Tusche, Feder und Fine Liner, spannen sich über große und kleine Papierbögen. Zum ersten Mal zeigt die Künstlerin ihre jüngsten Werke – abstrakter und reduzierter denn je.
Bettina Kriegs Arbeiten geben bewusst keine Antworten auf Fragen nach Länge, Anfang oder Ende. Ihre Zeichnungen tragen keine Titel. Sie stellen nichts Konkretes dar, sondern fordern die persönlichen und ungeahnten Vorstellungswelten eines jeden Betrachters heraus. Die Künstlerin hält uns einen Spiegel vor – ein Suchbild – das auf die eigene Imagination zurückwirft. Lassen wir uns auf die Zeichnungen ein, vermögen wir Organe, Muskelfasern, Schwalben, Buchten, Herztöne, Frequenzen oder Berglandschaften in ihnen zu sehen. Nicht nur die möglichen Inhalte, sondern auch die Ästhetik der ausgestellten Zeichnungen changiert. Einige Blätter erinnern an comicartige Mangas, andere an düstere Radierungen Goyas.
In ihren früheren Arbeiten fotografierte die Künstlerin urbane Motive, aus denen sie zeichnerische Strukturen entwickelte. So verwob sie etwa Maschinenteile und Pflanzengewächse zu komplexen Mikrokosmen auf dem Papier. Ihre aktuellen Werke basieren hingegen auf nur einem Element: der Struktur von Wasser. Diese Vorlage stammt nicht aus ihrem Fotoarchiv, sondern aus Zeichnungen, die 2012 in Istanbul entstanden sind. Schon Jahre zuvor wuchs Bettina Kriegs Faszination für Wasser und dessen Darstellung, wie wir sie aus Kupferstichen des 15. Jahrhunderts kennen. So ist die Linienführung der Künstlerin von der Schule alter Meister inspiriert. Klare und geschwungene Striche, die von Lücken aus lichtem Weiß durchbrochen sind, durchziehen ihre Arbeiten. Doch Bettina Kriegs Linien halten nicht an dem Motiv des Wassers fest, sondern wachsen organisch weiter. Sie bewegen sich hin zu etwas Neuen, Undefinierten. Sie nehmen dreidimensionale Züge an und ziehen uns in einen optischen Zog hinein.
„Zeichnen heißt, die Form entstehen zu lassen – sie zu machen, indem man sie entstehen lässt“, so der französische Philosoph Jean-Luc Nancy in seiner Schrift Die Lust an der Zeichnung. Wenn Bettina Krieg zeichnet, geht sie ebenso intuitiv vor. Sie lässt die Linienführung wachsen, Schritt für Schritt, ohne das Ergebnis zu fokussieren. Die Linie wird zur Spur ihrer Konzentration und Offenheit im Entstehungsprozess des Zeichnens. Die Künstlerin korrigiert ihre von Hand gezogenen Linienverläufe nicht, sondern lässt sie so auf dem Papier stehen, wie sie sich eingeschrieben haben. Auf diese Weise entfaltet sich die Zeichnung - sie tritt in Erscheinung.
Bettina Kriegs Arbeiten zeugen von einer unerschöpflichen Neugierde und großen Hingabe für den Akt des Zeichnens, ebenso wie für die menschliche Vorstellungskraft.
Lisa Sintermann, 2016