Es gibt wohl keine ursprünglichere Weise bildnerischen Ausdrucks als die Zeichnung. Weit vor jeder Kunst, vor Zivilisation und primitivster Zusammensetzung einer Gesellschaft, noch vor der Sprache regt sich etwas zum Entwurf, und ein Finger genügt, der nicht einmal den Grund braucht, um etwas aufzutragen; die spurlose Geste ist ihr erster Ansatz. Das Elementare der Zeichnung setzt sich darin fort, daß sie fast ein Sinnbild des Technischen ist; schon in ihrer rudimentären Ausführung artikuliert sich das Wesen jeder Übertragung einer Vision ins Manifeste, ein Umsetzen in die Tat. Vom Behelfsmäßigen bis zur Virtuosität bringt sie alles Handeln mit sich. Doch vom ungelenken Abdruck im Sand zur exakten Planskizze entfaltet sich an dieser Urform der Vorstellung sogleich das Räumliche, das wir kaum anders als im Umriß denken können; auch nur zwei Punkte lassen sich nicht lange betrachten, ohne daß eine Verbindung gezogen wird, und so legt der Begriff allzu selbstverständlich das Denken auf die Linie fest.
Die Zeichnungen dieser Künstlerin sind hiervon naturgemäß nicht auszunehmen; in merkwürdiger Kombination des Behutsamen mit dem Entschiedenen weichen sie von einigen Grundgesetzen ab. Beim Betrachten der verschiedenen Formate und Materialien gewinnt man doch den einheitlichen Eindruck eines durch lauter Feinheiten aufgerissenen Geschehens. Man gerät dabei oft in ein Sowohl-als-auch: Es ist eine groß angelegte Bewegung, nicht auf eine ausschlaggebende Geste zurückzuführen, während eine genau bestimmte Haltung des Körpers all diese Schraffuren erzwingt; zahlreiche Verstrebungen, die sich dem schlichten Konstrukt entziehen, Fülle der Aktivitäten, die jeden plot durchkreuzen; es scheint sich auf einer Bühne abzuspielen, doch das Bodenlose, Haltlose, Ortlose selbst drängt es zusammen; so viele Richtungen, die wir auszumachen glauben, und kein Hergang, kein Verlauf, kein Ziel. Das Wiedererkennen, durch das man sich anhand von Einzelheiten aufs Ganze einlassen möchte, macht Halt an den Brüchen, die das Figürliche nicht zum Zuge kommen lassen.
Um vom Figürlichen wie vom Räumlichen ausführlicher zu sprechen – in einer Regung, die vom Nachahmen zum Schöpferischen übergeht, setzt der Betrachter zum Zeigen an: hier bäumt sich wohl etwas auf, Geäst treibt herum, Balken ragen hinein; aus den Augen müßte sich ein Kopf ergeben, die Flügel können nur einem Vogel gehören; nichts anderes als Erdboden läßt diese Schichtung oder jenes Aufgetürmte zu; es sind Fliehkräfte, die aus den Parallelen herausgelesen werden ... So beruft sich die eigene Phantasie auf eine Logik, die in Wahrheit jede Aussage verweigert. Das vermeintlich Innewohnende kennt den Rahmen nicht; das Gelingen im Momentanen läßt sich nicht zusammenfassen. Die Ansätze zum Gegenständlichen verknüpfen sich nicht zu einem Raum, in dem die Formen zur Verantwortung gezogen werden könnten. Hier finden wir vielleicht die einzige Erklärung, die solches Geschehen uns erlaubt: das austarierte Chaos gleicht einem Urzustand, einer Feier alles Möglichen – Protest für das Schwebende.
Bettina Krieg hat diesmal einen Ausstellungsraum entworfen, der einige Besonderheiten ihrer Zeichnungen zu akzentuieren, andere zu konterkarieren scheint. Die Einfassung, die schützende Hülle, die unterschiedenen Bereiche könnten der aufbrechenden Bewegung, den Stürzen, den Interferenzen widersprechen, die Konzentration des Blickes dem sonst Ungerichteten. Zugleich wird die Assoziation zur Bühne betont, doch widmet sich die Inszenierung der Wahrnehmung selbst. Keine Scheu vor dem Kostbaren – umso weniger, als es vor allem aus Fortlassungen gewonnen ist. Man erkennt bald, daß das Schauspiel, von dem man eingangs reden mochte, sich an ein Innerstes wendet. Dort wird das Anschauliche hervorgebracht.