Zwei verblüffende Eigentümlichkeiten fallen zunächst im zeichnerischen Werk von Bettina Krieg auf. Obwohl die Künstlerin ihre Motive einem Wust an Informationen verdankt – eigenen Fotos, Materialien aus Printmedien und dem Netz – und obwohl es sich in ihrer vergnügten hintergründigen Aufzählung dieser Bestände ihres Archivs überwiegende um Strandgut unserer Zivilisation handelt, von zerfallenden Gebäuden bis zu Schrottplätzen, frönt sie mitnichten einem melancholisch-romantischen Kult des Ruinösen.
Im Gegenteil, diese Bruchstücke einer urbanen und technischen Welt verstricken sich mit solchen aus Fauna und Flora, beispielsweise Oktopus-Fangarmen und Krebsscheren, Farnen und Palmwedeln, zu raffiniert vor sich hinwuchernden Gebilden in einem Zukunft und Erinnerung verschränkenden Transformationsprozess.
Hieran knüpft sich die zweite Eigentümlichkeit, wie an dem großen Triptychon in der Ausstellung zu sehen sind. Dieses unterläuft eine Zeit suspendierende, statisch-hieratische Symmetrie. Es gibt stattdessen eine Spiegelungsachse, die , als inneres Lot wirksam, den Formen eine freie Entwicklung erlaubt. Leicht geneigt, verknüpft sie nicht nur die drei Teile miteinander, sondern steuert zugleich den transversalen Rhythmus der zeichnerischen Bewegung. Gelöst von der irdischen Basis und ergänzt von sphärischen Ausläufern, treibt das dichte kakophonische Geflecht über die Blätter.
Die Formen sind mit Feder und Tusche, Pinsel und farbig getönter Tinte, sowie in der Stärke variierenden Stiften gezeichnet, und hier wirkt der Drive im Mikrobereich des zeichnerischen Entstehungsprozesses. Indem geradlinige und geknickte, runde und kurvige Formen, Architektonisches und Organisches aufeinander treffen, lebt das Gewebe von spröder Kraft und flüssiger Bewegung zugleich. Die räumliche Ordnung folgt einer Logik, der zufolge jedes Element mit seiner eigenen perspektivischen Projektion auf die der Nachbarelemente reagiert. Es entstehet so eine sprudelnde Motorik von Formen, die sich aus den großen Bögen ergießen oder aus ihre für den Bewegungsprozess bildet, so verdankt sich die Bewegung selbst daher keiner subjektiven Geste, sondern der künstlerisch souverän gehandhabten tiefenräumlichen Verstrickung der Formen untereinander.
Zwei Bezüge zu kulturellen Traditionen lassen sich herstellen, die in Bettina Kriegs Werk vielleicht eher intuitiv sich ergeben, zugleich jedoch neue Aspekte zeigen. Das eine ist der vormoderne Flechtraum, den die klassische Perspektive nicht vollends außer Kurs gesetzte hatte. Nicht nur in Topologie und Knotenforschung eingegangen, prägt er, transformiert, ebenso moderne Bildwelten wie beispielsweise Kubismus und Collagen. Das zweite ist ein Strukturprinzip aus der Ornamentgeschichte, das häufig als rein diterranen Tradition, die bis in Klassizismus und Historismus fortgewirkt hat, war allem Anschein nach keine reine Dekoration, sondern ornamentales Symbol der Verknüpfung von Raum und Zeit, Grundlage jeder kulturellen Ordnung. Derhypnotische Tiefensog des Labyrinths erhielt mit der linearen Ausrichtung des Zeitpfeils ein historisch wirksames Gegengewicht.
Labyrinthe und rein symmetrische Formen wirken auf uns immer noch hypnotisch und bannend zugleich. Transversal verlaufende Prozesse können davon lösen, aber auch zum Mitgleiten verleiten. Erst in der Opposition und Verknüpfung beider, in sich doppeldeutiger Momente wird eine Verstrickung von Raum und Zeit gebildet, welche die eigene und universelle Autonomie ermöglicht. Bettina Krieg hat in vielen Werken mit dem Sog von Spiegelungen und Formen seiner Durchbrechung auf faszinierende Weise experimentiert. Das nunmehr in der Ausstellung gezeigte Triptychon bietet eine verblüffend zeitgenössische Exposition für ein universelles und zugleich individuelles Problem menschlicher Existenz. Und zugleich wird das, Ornamentale der Oberflächlichkeit des Dekorativen entzogen in diesem von wilder Schönheit und wachem Mut strotzenden Zeitbild.
Zwei im Format quadratische Zeichnungen, ebenfalls 2012 erarbeitet, ergänzen Bettina Kriegs Beitrag zur Ausstellung. Im einen, einer kreisförmigen Komposition auf einem quadratischen Bildfeld, drückt ein mit weiß ausgesparten Hexagonen gewölbter schwarzer Grund ein unendlich ineinander verschlungenes Geflecht dynamischer Formen in den Vordergrund. Dessen zentrifugale Bewegung unterläuft zugleich mit seiner Asymmetrie das Zentrum, und obendrein wird die Geschlossenheit des Kreisrands gebrochen durch einen serifenartigen Ausbrecher. Leute mit einer kunstgeschichtlichen déformation professionelle könnten sich an eine Quoniam_Q_Initiale einer irisch- northumbrischen Handschrift des 8./9. Jahrhunderts erinnert fühlen. Verblüffenderweise scheint diese aktuelle Transformation eines alten Labyrinthischen Flechtwerks gänzlich intuitiv, ohne direkte historische Vorbilder der Künstlerin gelungen zu sein. Die andere Zeichnung spielt auf geheimnisvolle Weise mit der Spannung zwischen einem traumhaft dunklen Ursprung und den sich endlos verzweigenden, sich ausdehnenden und im Äther verlierenden Splittern einer immer neuen Geschichte –und Geschichten. Aber auch der Ursprung, wie nur irgendein Anfang, ist behutsam, jedoch bestimmt, ein wenig aus dem Zentrum gerückt.